Der Nachbarschaftsberater kennt Frau Z. tatsächlich; aber vor allem kannte er ihren erst kürzlich verstorbenen Mann, mit dem er viele Jahre gemeinsam gekegelt hatte. Er ruft Frau Z. zu Hause an und fragt, ob er sie einmal mit Frau Kuhlmey besuchen dürfe oder ob sie lieber zu ihm nach Hause auf eine Tasse Kaffee kommen möchte. Frau Z. wünscht die Gäste lieber in ihrem eigenen Hause zu empfangen und es wird ein Termin vereinbart. Frau Z. hat in der Zeitung schon mehrfach Berichte über und von den Nachbarschaftsberatern gelesen, aber sie kann sich unter deren Engagement nicht wirklich etwas vorstellen – aber der NBB ist ihr vertraut und ihr Mann konnte den Herrn aus der Nachbarschaft schon immer gut leiden und ihr Mann und er waren doch viele Jahre zusammen in dem Kegelclub.
Frau Z. ist vor dem Besuch sehr angespannt. Was die wohl von ihr wollen und sie denkt, hoffentlich merken die nicht, dass ich das alles hier im Haus nicht mehr schaffe und ihr Blick fällt auf den Stapel ungeöffneter Post auf der Küchenanrichte. Hier liegen ungeöffnete Rechnungen, Kontoauszüge, Werbebotschaften des Stromanbieters und der Telefongesellschaft. Obenauf liegt das Angebot „Sonnenschein Plus“ und ihr wird dort offensiv der unbedingte Tarifwechsel 1.000 mit einem Vorzugsrabatt mit Flatrate angeraten.
Ihr Sohn arbeitet in Hamburg und der ruft auch jeden zweiten Tag an, aber die Tage sind nach dem Tode ihres Mannes lang geworden. Frau Z. hat ihren Mann drei Jahre bis zu seinem Tode gepflegt und konnte in der Zeit kaum vor die Tür. Es reichte immer nur, um wenigstens einzukaufen. Kontakte zu Freunden und Verwandten haben darunter sehr gelitten – sie und Mann wollten aber auch nicht, dass ihn jemand so elend liegen sieht.
Frau Kuhlmey und der NBB kommen auf einen Kaffee vorbei. Im Rahmen dieses Kontaktes bemühen sie sich, das Vertrauen von Frau Z. zu gewinnen und zu vermitteln, dass auf gar keinen Fall etwas getan oder veranlasst wird, was Frau Z. nicht möchte. Es ist nun sichergestellt, dass Frau Z. einen Ansprechpartner hat, der ihr hilft und sich um sie kümmert. Dazu gehören Fragen wie: Welche direkte und indirekte Unterstützung benötigt Frau Z.? Ist sie selber medizinisch gut versorgt? Möchte sie in dem großen Haus wohnen bleiben oder in eine altengerechte kleinere Wohnung ziehen und braucht sie dabei Unterstützung? Oder müssen in ihrem Haus bauliche Veränderungen vorgenommen werden, damit sie dort auch weiter selbstständig leben kann? Oder benötigt sie nur eine Unterstützung beim Aufbau von sozialen Kontakten in ihre Kirchengemeinde oder braucht sie eine Haushaltshilfe?
Welche einzelnen Lösungsschritte und Maßnahmen und Hilfen für die fiktive Frau Z. in Absprache mit ihrem Sohn nun initiiert werden, dass gilt es hier nicht weiter zu beschreiben. Die Gruppe der Nachbarschaftsberater, die für ihre Aufgaben alle geschult werden, wird sich unter Einbeziehung der bestehenden Hilfestrukturen in der Gemeinde Schermbeck nun um Frau Z. kümmern und es wird dafür Sorge getragen, dass Frau Z., wenn sie das denn wünscht, noch möglichst lange in ihrem Haus wohnen bleiben kann oder für sie wird der Umzug in eine altengerechte Wohnung organisiert und begleitet.
Nur weil die Post und die Rechnungen nicht geöffnet und bearbeitet werden und man seinen Haushalt ggf. nicht mehr selber führen kann, dass darf auf gar keinen Fall ein Grund für eine stationäre Unterbringung werden.
Im Regelfall liegt es nicht daran, dass es entsprechende Beratungs- und Hilfsangebote in der jeweiligen Heimatstadt/Gemeinde nicht gibt. Über die Krankenkassen, über die Wohnberatungsstellen, die Pflegestützpunkte, die unterschiedlichen Selbsthilfegruppen oder den ambulanten Sozialstationen sowie über die kommunalen Dienste besteht meist ein dicht gespanntes Netz an Beratungs- und Hilfsangeboten - und all diese attraktiven Angebote und deren gesamter Rechtsrahmen für deren Inanspruchnahme ist vollständig im Internet hinterlegt.
Aber diese Hilfen setzen oft voraus, dass eine „Zielperson“ selber vorbei kommt und sich selber aktiv Hilfe im Angebots- und Leistungsdschungel sucht.
In den Gemeinden Schermbeck und Hünxe und der Stadt Hamminkeln (NRW - Münsterland) wurde es mit finanzieller Unterstützung des Kreises Wesel und durch LEADER sowie der Verbands-Sparkasse Wesel möglich gemacht, dass drei hauptberufliche Koordinatorinnen (jeweils mit halben Stellen) die ehrenamtliche Arbeit der Nachbarschaftsberater die bürgerliche Ehrenamtsarbeit aufnehmen konnten. Die Nachbarschaftsberaterwurden in kürzester Zeit zu Spezialisten für den demographischen Wandel in ihrer Heimatgemeinde und entwickelten ein feines Gespür dafür, welche sinnvollen und niederschwelligen Dienstleistungen ggf. fehlen und aufgebaut werden sollten. So wurde in der Gemeinde Schermbeck, der ersten der drei Modellkommunen, die bereits 2009 mit dem Modellprojekt gestartet ist, ein Demenz-Café (Dies ist ein Treffpunkt für dementiell erkrankte Menschen und deren Angehörige; hier wird der Austausch von Betroffenen ermöglicht und die Entlastung in Form von Freizeit für die Angehörigen organisiert.) Des Weiteren wurde ein Senioren-Fahrdienst (Fahrten aus den Außenbezirken der Gemeinde zum Wochenmarkt im Ortskern) und ein Gemütlicher Treff „Hör mol to“ in der Gemeindebücherei sowie ein Seniorenwegweiser, in Kooperation zwischen dem Seniorenbeirat der Gemeinde Schermbeck und der Nachbarschaftsberatung Schermbeck erarbeitet, aufgebaut.
Die Effektivität und der „Nutzen“ der Nachbarschaftsberatung hängt weitgehend davon ab, ob und in wie weit es gelingt, das neue Leistungsangebot an die bestehenden Beratungs- und Angebotsstrukturen der unterschiedlichster Anbieter anzubinden und zu vernetzen, ohne dabei Arbeitsfelder „doppelt“ zu besetzen.
Die Nachbarschaftsberater sind aber nicht nur speziell für Senioren und ihre Problemlagen da, sondern sind prinzipiell für alle Bürger in allen Lebensphasen Ansprechpartner und sie helfen u.a. bei:
- Beratung und Begleitung beim Verfassen von Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten
- Unterstützung und Begleitung bei Amtsgängen
- Unterstützung und Hilfe bei der wirtschaftlichen Entscheidungsfindungen
- Vermittlung zu anderen wohlfahrtsstaatlichen Trägern
- Pflegestufenberatung etc.
Noch muss in der öffentlichen und politischen Diskussionen immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, dass bis 2030 – und nicht nur in Schermbeck – sich der Anteil der Menschen, die älter als 80 Jahre sein werden, verdoppelt und prognostisch ca. 1/3 der Gesamtbevölkerung dann 65 Jahre und älter sein werden.
Für diese kommende und bereits laufende demographische Entwicklung gilt es, bereits heute die notwendigen Strukturen zu schaffen bzw. die Grundlagen zu legen, so dass die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger überall erhalten bleibt bzw. sich sogar noch weiter verbessert. Der Aufbau von Nachbarschaftsberaterinnen und –beratern kann ein Baustein sein, diese Entwicklung positiv zu stimulieren.
Dip.Soz. Wiss. Ralf Siegel
Universität Witten/Herdecke
Department für Pflegewissenschaft
Sofern Sie darüber nachdenken, eine solche Hilfestruktur der Nachbarschaftsberaterinnen und –berater in ihrer Stadt oder Gemeinde aufzubauen, so beraten wir Sie gerne – die Schirmherrschaft Ihrer Bürgermeisterin oder Ihres Bürgermeisters ist aber zwingend erforderlich.