Europawahl 2024: Wie krisenfest ist die Europäische Union?
5 Fragen an Klaus Welle, ehemaliger Generalsekretär des EU-Parlaments.
Ein Krieg auf europäischem Boden, die Klimakrise und das zunehmende Erstarken rechtsextremer Parteien in den EU-Staaten: Welche Rolle spielen diese Herausforderungen bei der anstehenden Europawahl? Und wie krisenfest ist die Europäische Union? Diese Fragen haben wir Klaus Welle bei seinem Besuch an der Uni Witten/Herdecke, seiner Alma Mater, gestellt. Hier studierte er zwischen 1987 und 1991 Wirtschaftswissenschaften.
Klaus Welle war von 2009 bis 2022 Generalsekretär des Europäischen Parlaments. Heute ist er unter anderem Vorsitzender des Academic Council des Martens Centre in Brüssel und Gastprofessor an der London School of Economics.
Europa sieht sich seit 15 Jahren regelmäßig mit neuen Herausforderungen konfrontiert: Die Finanz- und Schuldenkrise 2008, die Fluchtmigration 2015, das Brexit-Referendum 2016 und schließlich die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Wie hat sich die EU Ihrer Meinung nach bei der Bewältigung der jüngsten Krisen geschlagen und welche Herausforderungen werden die nächste Legislaturperiode dominieren?
Sowohl bei der Corona-Pandemie als auch beim russischen Angriffskrieg sprechen wir von Krisen in Europa, aber nicht von Krisen der EU.
Mit dem Konjunkturpaket „Next Generation EU“ haben die Mitgliedstaaten bereits im Sommer 2020, wenige Monate nach Beginn der Pandemie, mit 750 Milliarden Euro die erforderlichen Mittel bereitgestellt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Covid-Krise zu bewältigen.
Ebenso schnell und entschlossen haben die EU-Staaten und die Institutionen auf den Überfall Russlands auf die Ukraine reagiert: Bereits nach zwei Tagen hat die EU Sanktionspakete gegen Russland verhängt. Innerhalb von zwei Wochen war die Ukraine an das europäische Energiesystem angedockt. Mit ihren Maßnahmen hat die EU eine wesentliche Rolle in der Abwehr dieser Aggression gespielt. Die gesamte geopolitische Lage wird auch in den nächsten fünf Jahren ein zentrales Thema der Europa-Politik sein. Die EU muss ihre Souveränität und ihre Verteidigung stärken! Besonders im Hinblick auf Russland, China und den ungewissen Ausgang der anstehenden US-Wahl ist Europa ein potenzielles Konfliktgebiet, das es zu sichern gilt.
Eine größere – planetare – Bedrohung ist die Klimakrise. Die EU hat ambitionierte Ziele verabschiedet, um dieser entgegenzuwirken. Die eigentliche Herausforderung ist nun jedoch die praktische Umsetzung, insbesondere die Finanzierung. Sollen die nötigen Gelder aus den öffentlichen Kassen der Mitgliedstaaten kommen oder wird es „Next Generation EU 2.0“ geben? Das Thema hat Konfliktpotenzial. Erforderliche Klimaschutzmaßnahmen müssen sozialverträglich sein.
Welche entscheidenden Faktoren schützen die Stabilität des Staatenbündnisses?
Entscheidend für die erfolgreiche Zusammenarbeit der Europäischen Union war und ist die Bereitschaft zum Ausgleich. Nur durch Verhandlungen auf Augenhöhe und Kompromisse können Lösungen für gemeinsame Probleme gefunden werden. Ein weiterer stabilisierender Faktor ist die transatlantische Partnerschaft mit den USA, die sich auch in der NATO manifestiert. Die Europäische Union ist heute vor allem eine Wertegemeinschaft, die ihre Mitgliedstaaten und deren Bürger:innen vertritt.
Ein entscheidender – und vielleicht auch vorteilhafter – Unterschied zwischen dem Europäischen Parlament und dem Deutschen Bundestag ist, dass es im EU-Parlament keine festen Koalitionen und somit auch keine konstante Opposition gibt. Bei jedem Gesetzesentwurf können die einzelnen Fraktionen neue Interessenbündnisse eingehen. Dies lässt weniger Spielraum für Polarisierung.
Eine kontinentale Demokratie kann nicht 51 % gegen 49 % organisiert werden.
Junge Menschen ab 16 Jahren sind erstmals wahlberechtigt. Wie wird sich diese Neuerung auf die Wahl auswirken?
In der jüngeren Altersgruppe ist die Wahlbeteiligung in der Regel am niedrigsten. Das haben wir auch beim Brexit-Referendum 2016 gesehen. Nur wenige jungen Brit:innen, die überwiegend pro-Europa eingestellt sind, haben auch gewählt. Durch den EU-Austritt mussten sie viele ihrer Freiheiten einbüßen. Diese Erfahrung war für viele EU-Bürger:innen eine wichtige Lektion und zeigt, dass wir von unserem Mitbestimmungsrecht unbedingt Gebrauch machen sollten.
Viele junge Menschen scheinen nicht greifen zu können, inwiefern die EU-Politik sie persönlich betrifft. Dabei beschäftigt sich das Europäische Parlament nicht nur mit den großen weltpolitischen Themen, sondern auch mit ganz alltäglichen Aspekten, die lokal wirken und auch die Lebensrealität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beeinflussen.
Konnten Sie in den vergangenen Jahren insgesamt eine Entwicklung in der Wahlbeteiligung feststellen? Wenn ja, was hat sich verändert?
Insgesamt beobachten wir bei der Wahlbeteiligung eine positive Entwicklung. 2019 lag die Beteiligung bei 51 % – ein Plus von 8 % im Vergleich zur vorangegangenen Wahl. Aktuelle Umfragewerte sagen für dieses Jahr sogar eine weitere Steigerung voraus. Dafür gibt es mehrere Gründe.
- Noch vor 20 Jahren sahen viele Wähler:innen wahrscheinlich keinen persönlichen Bezug zu den eher technischen Themen der damaligen Europa-Politik. Entsprechend niedrig fiel die Wahlbeteiligung aus. Heute verstehen EU-Bürger:innen, dass sich die Aspekte, die sie persönlich beschäftigen – wie die Klimakrise oder der Krieg in der Ukraine – auf europäischer Ebene abspielen. Mit ihrer Stimme können sie selbst Einfluss nehmen, wie die EU mit diesen Themen umgeht.
- 2014 hat die Europäische Union das Spitzenkandidatenprinzip für die Europawahl eingeführt, das wir auch von der Bundestagswahl kennen. Die Wahl hat dadurch eine persönliche Komponente und eine größere mediale Aufmerksamkeit bekommen. Die Kandit:innen können sich den Wähler:innen bereits während des Wahlkampfs vorstellen und sie überzeugen.
- Auch die Parteien am rechten Rand nehmen Einfluss, denn sie sind in der Lage, Nicht-Wähler:innen zu mobilisieren.
Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit beobachten wir, dass rechte Parteien immer stärker werden. Worin sehen Sie die Gründe für den Rechtsruck und welchen Einfluss wird dieser auf die Europawahl haben?
Rechtsextreme Parteien setzen auf Nationalismus. Sie versprechen Schutz durch Abschottung, was sie vor allem für diejenigen attraktiv macht, die sich durch die Globalisierung zurückgelassen fühlen. Das konnten wir in den USA bei Donald Trump beobachten, in Frankreich bei Marine Le Pen und das beobachten wir in Deutschland bei der AfD.
Die Europawahlen sind wie ein Spiegel der politischen Stimmung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Man kann aus nationalen Umfragewerten ziemlich genau die Zusammensetzung des EU-Parlaments ableiten. Die EVP (Europäische Volkspartei), die Sozialdemokraten und die Liberalen bilden traditionell die stabilisierende Mitte des Parlaments. Prognosen sagen aktuell voraus, dass bei der Wahl 40 Sitze links der EVP verloren und dafür 55 Sitze rechts bis extrem rechts hinzukommen werden.
(Anm.: Im Juni 2024 werden 15 zusätzliche Abgeordnete gewählt, sodass das Parlament von 705 auf 720 Sitze wächst.)
Das Spektrum der stabilisierenden Mitte wird durch das Erstarken der äußeren Grenzen geschwächt. Trotz dieser Entwicklung wird die Mitte stark genug bleiben, sodass die meisten Parlamentsentscheidungen über die drei Fraktionen (EVP, Sozialdemokraten, Liberale) getroffen werden.
Weitere Informationen:
Was tut die Europäische Union für ein besseres Europa? Wie wirkt sie in meiner Region und welchen Einfluss hat die EU-Politik auf mein tägliches Leben?Auf der interaktiven Website What Europe does for me können Bürger:innen sich über konkrete Projekte und Maßnahmen der EU informieren, die vor ihrer Haustür passieren und die die Themen betreffen, die sie im Alltag bewegen.
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